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Die vier Teufel

 

Herman Bang

Novelle

 

Erstes Kapitel

Die Glocke des Regisseurs ertönte. Allmählich nahm das Publikum seinePlätze einwobei das Getrampel auf der Galeriedas Geplauder im ParkettdasRufen der Apfelsinenjungen die Musik übertönte - und endlich kamen auch dieblasierten Leute in den Logen zur Ruhe und warteten.

Es kam die Nummer »Les quatre diables« an die Reihe. Man sah es an demausgespannten Netz.

Fritz und Adolf liefen aus der Garderobe hinaus in das Künstlerfoyersieeilten den Gang entlangwobei die grauen Mäntel um ihre Beine schlugenriefenund klopften an die Türe Aimees und Luisens.

Die beiden Schwestern warteten schonebenfalls in fieberhafter Erregunginihren langen weißen Gesellschaftsmäntelndie sie ganz einhüllten - währenddie Duenna mit ihrem schiefsitzenden Kapotthut unaufhörlich im Diskant Rufeausstieß und verwirrt mit dem Puderder Armschminke und dem zerdrückten Harzin den Händen hin und her lief.

»Kommt«rief Adolf»es ist Zeit!«

Aber sie liefen alle noch einen Augenblick durcheinanderganz kopflosvondem Fieber ergriffendas alle Artisten packtwenn sie das Trikot auf denBeinen fühlen.

Die Duenna schrie am lautesten.

Nur Aimee streckte ruhig ihre Arme aus den langen Ärmeln Fritz entgegen.

Und schnellohne sie anzusehen und ohne ein Wort zu redenführte ermechanisch eine Puderquaste an den vorgestreckten Armen auf und nieder - wie esseine Gewohnheit war.

»Kommt!« rief Adolf wieder. Sie gingen alle hinausHand in Handundwarteten. Sie stellten sich am Eingang auf und hörten von drinnen die erstenTakte des Liebeswalzersnach dem sie arbeiteten:

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Fritz und Adolf warfen ihre Mäntel zu Boden und standen strahlend in rosaAnzügen daein so blasses Rosadaß es fast weiß erschien. Ihre Körperwirkten wie nackt - jeder Muskel war zu sehen.

Die Musik hörte auf zu spielen.

Im Stall war es ganz leer und still. Nur ein paar Pferdeknechte warenohnesich stören zu lassendamit beschäftigtdie Futterbüchsen zu untersuchenund sie standen und hoben mißtrauisch die schweren Behälter empor.

Die Melodie begann von neuem: »Die vier Teufel« betraten die Manege.

Das Beifallsklatschen erschien ihnen wie ein undeutliches Brausenund sieunterschieden keine Gesichter. Es warals wenn alle Fibern ihrer Körperbereits vor Anstrengung zitterten.

Dann lösten Adolf und Fritz rasch die weiten Mäntel Luisens und Aimeessiefielen auf den Sand herniederund die Schwestern standen unter dem Feuer vonHunderten von Gläsern gleichsam nackt in ihren schwarzen Trikots da - wie zweiNegerinnen mit weißen Gesichtern.

Sie schwangen sich alle ins Netz hinauf und begannen zu arbeiten. Nacktschienen sie zwischen den rasselnden Schaukeln hin und her zu fliegenderenMessingstangen leuchteten. Sie umarmten einandersie fingen einander aufsiefeuerten sich gegenseitig durch Zurufe an; es warals wenn die weißen undschwarzen Körper sich liebesheiß umschlängen und dann sich wieder löstensich abermals umschlängen und sich wieder lösten in lockender Nacktheit.

Und der Liebeswalzer mit seinen schläfrig schmachtenden Rhythmen tönteweiterund die Haare der Frauen umflattertenwenn sie durch die Luft flogenweit ausgebreitet die schwarze Blöße - wie ein Atlasmantel.

Sie hörten nicht auf. Nun arbeiteten sie übereinanderAdolf und Luise oben.

Der Beifall klang zu ihnen hinauf wie ein verwirrtes Gemurmelwährend dieArtisten in ihren Logen (wo auch die noch immer erregte Duennadenrosengarnierten Kapotthut schief auf dem Kopfeganz voran stand und mit ihrenbloßen schallenden Händen Beifall klatschte) die »Teufel« mit ihren Gläsernbeobachteten und den »Kniff« bei ihren Anzügen herauszubekommen suchtenderen Gewagtheit in der Artistenwelt berühmt war:

»Ouiouiihre Hüften sind ganz nackt -«

»Der Kniff ist eben derdaß man die Lenden sieht«riefen sie in derArtistenloge durcheinander.

Die dicke Vorreiterin in dem »Ritterspiel aus dem sechzehnten Jahrhundert«Mlle. Rosalegte ihr Glas schwer beiseite.

»Neinsie haben gar kein Korsett an«sagte sieganz schweißig in ihremeigenen dicken Panzer. Sie fuhren fort zu arbeiten. Das elektrische Lichtwechselte zwischen Blau und Gelbwährend sie durch die Luft fuhren.

Fritz schrie auf; an den Beinen hängendfing er Aimee in seinen Armen auf.

Dann ruhten sie sich ausindem sie auf dem Trapez nebeneinander saßen.

Über sich hörten sie das Rufen Luisens und Adolfs. Aimee sprach mitkeuchender Brust von Luisens Arbeit:

»Voyez doncvoyez!« rief sie.

Luise wurde von Adolfs Beinen aufgefangen.

Aber Fritz antwortete ihr nicht. Er starrte nurwährend er mechanischfortfuhrseine Hände an der kleinen aufgehängten Decke abzutrocknennach derLogenreihe hinabdie sichhell und unruhigunter ihnen wie die hellfarbigeUmsäumung eines bunten Beetes hinstreckte.

Und plötzlich verstummte auch Aimee und starrte in derselben Richtung hinabwie erbis Fritz sagteals risse er sich von etwas los:

»Wir sind an der Reihe«und sie erwachte mit einem Ruck.

Wieder trockneten sie ihre Hände an der Decke ab und warfen sich herabsodaß sie an den Armen hingenals wenn sie die Kraft ihrer Muskeln versuchenwollten. Dann setzten sie sich wieder hinauf. Die Seele wohnte in ihren Augenmit denen sie die Entfernung zwischen den Trapezen maßen.

Plötzlich schrien sie beide:

»Du courage!«

Und Fritz flog rücklings dahin nach dem entferntesten Trapezwährend Luiseund Adolf oben einen langenanhaltenden Schrei ausstießenals wollten sie einTier ermuntern.

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Ihre große Nummer begann. Sie stießen sich rücklings abunter heiseremRufenflogen aneinander vorbei und erreichten ihr Ziel. Sie wiederholten es undschrien abermals. Und hoch obenvon der Rotundefiel plötzlichwährendLuise und Adolf wie zwei sich unaufhörlich drehende Räder auf ihren Schaukelnherumkreistenein Regen von deutlich glitzerndem Gold wie eine goldeneStaubwolke herabdie leuchtend langsam niedersank - durch den blanken weißenStrom der elektrischen Lampen.

Einen Augenblick sah es ausals wenn die Teufel durch einen strahlendenGoldschwarm flögenwährend der Staubder langsam herabsankihre Nacktheitmit Tausenden strahlender Goldflittern übersäte.

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Plötzlich schossen sieeiner nach dem andernkopfüber durch denglänzenden Regen in das ausgespannte Netz hinab - und die Musik verstummte.

Sie mußten wieder und wieder vorkommen.

Verwirrt stützten sie einanderals würden sie plötzlich schwindlig. Siegingen hinaus und kamen wieder herein. Dann ließ der Beifall nach.

Stöhnend liefen sie in die Garderobenund Adolf und Fritz warfen sich aufeine Matratze am Boden platt nieder und hüllten sich in eine Decke ein. Dalagen sie eine Weilesie waren kaum bei Besinnung.

Dann standen sie auf und kleideten sich um.

Adolf blickte von seinem Spiegel nach Fritz hinder sich imStallmeisterfrack präsentierte.

»Willst du Dienst tun?« fragte er.

Und Fritz sagte verdrießlich:

»Der Direktor hat mich darum gebeten.«

Er ging zu den andern hineindie beim Eingang die Stallmeisterwacht hattenund abwechselndtodmüde gleich ihmheimlich für einen Augenblick dieschlaffen Körper an den Wänden ruhten.

Nach der Vorstellung versammelte sich die Truppe im Restaurant.

Die »Teufel« saßenstumm wie die andernan einem Tisch für sich. Aneinigen Tischen begann man Karten zu spielen - immer ohne zu reden. Man hörtenur den Laut des Geldesdas über den Tisch hingeschoben wurde.

Die beiden Kellner standen wartend vor dem Büfett und starrten stumpfsinnigall die stillen Leute an. Dummdie Beine gerade vor sich hingestreckt und mitschlaffhängenden Armenals wäre ihnen alles gleichblieben die Artistenlängs der Wand sitzen.

Die Kellner begannen das Gas herabzuschrauben.

Adolf schob das Geld neben eines der Seidel hin und stand auf.

»Kommt«sagte er. »Wir wollen gehen!«

Und die andern drei folgten.

Die Straßen waren schon ganz still. Sie vernahmen keinen andern Laut alsihre eigenen Trittewährend sie je zwei und zweiwie sie arbeitetendahinschritten. Sie erreichten ihre Wohnung und trennten sich im erstenStockwerk auf dem dunklen Flur mit einem leisen »Gute Nacht!«

Aimee blieb auf dem Treppenabsatz im Dunkeln stehenbis Fritz und Adolf zumzweiten Stock hinaufgekommen waren und die Türe sich hinter ihnen geschlossenhatte.

Die beiden Schwestern gingen hinein und zogen sich ausohne ein Wort zureden. Als Luise aber im Bett lagbegann sie von der Arbeit der andern zuplaudernvon denendie in den Logen gewesen warenvon den Stammgästen: Siekannte alle Gesichter.

Aimee saß noch immer auf dem Rande ihres Betteshalb angekleidetohne sichzu rühren. Luisens Geplauder wurde immer abgebrochener. Schließlich schliefsie ein.

Aber ein Weilchen später erwachte sie wieder und setzte sich im Bettaufrecht hin. Aimee saß noch auf demselben Platz.

»Gehst du denn nicht ins Bett?« fragte Luise.

Aimee löschte schnell das Licht aus.

»Janun« sagte sie und stand auf.

Aber auch im Bett schlief sie nicht. Sie dachte nur an das eine: daß ihreAugen und die Fritzens sich niemals mehr trafenwenn er ihre Arme puderte.

Auch Fritz und Adolf waren in ihrem Zimmer zur Ruhe gegangen. Aber Fritz warfsich nur wie gefoltert im Bette umher:

Galt das ihm? Und was wollte sie von ihmsiedieses Weib in der Loge?Wollte sie etwas? Aber warum sah sie ihn immer so an? Warum streifte siesonst so nah an ihm vorbei? Galt das ihm?

Er hatte keinen andern Gedanken als dieses Weib. Vom Morgen bis in die Nachthinein keinen andern. Nur sie. Er lief mit der einen Fragewie ein Tier inseinem Käfigumher: ob sie wirklich wollte - dieses Weib in der Loge?

Und ständigüberall merkte er den Duft ihrer Kleiderwenn sie hinunterkamund an ihm vorbeiging.

Immer dicht an ihm vorbeiwenn er als Stallmeister dastand.

Aber galt das denn ihm? Und was wollte sie?

Er fuhr fortsich schmerzvoll hin und her zu werfenund er sagte einmalnach dem andern ins Dunkel hinausals wenn das Wort ihn faszinierte:

»Femme du monde!«

Einmal ums andereganz leisewie in Verzauberung:

"Femme du monde --- «

Und er begann mit all seinen Fragen wieder von neuem: ob das ihm galtob dasihm galt?

Aimee war wieder aufgestanden. Ganz leise schlich sie durch das Zimmer hin.Im Dunkeln tasteten ihre Finger nach dem Rosenkranz in der Schubladeund siefand ihn. -

Im Hause war es ganz still.

Zweites Kapitel

Die »Teufel« hatten »gearbeitet«.

Adolf schimpfte in der Garderobeweil Fritzwie er sagteihren ganzenKontrakt zuschanden machte durch seine ewigen Stallmeisterdiensteobschon die»Teufel« davon befreit waren.

Aber Fritz gab ihm gar keine Antwort.

Jeden Abend zog er seine Stallmeisteruniform an und stellte sich neben demLogenaufgang auf und wartetebis »die Dame aus der Loge« am Arm ihres Mannesdie Treppe hinunterkam und an ihm vorbeiging - sie hielt sich jetzt oft imStalle auf während der letzten Abteilung -dann folgte er ihnen.

Sie sprach mit den Stallknechtensie klopfte die Pferdesie las laut dieNamendie an den Ständen angeschlagen waren. Fritz folgte ihr.

Zu ihm sagte sie nichts.

Aber sie tat alles für ihn - das wußte er -; und durch tausend kleineBewegungendurch ein Emporrichten ihres Rückensdadurchdaß sie ihren Armausstrecktedurch einen Blitz ihres Auges stellten sie beide sich gleichsam imgeheimen füreinander ausund der eine belastete den andernobwohl siebeständig einander fern blieben - immer dieselbe Entfernungdie sievoneinander trennte und trotz der sie doch verbunden warenals wenn dergemeinsame Trieb sie in einer besonderen Doppelschlinge gefangen hättedie siebeide festhielt. Sie wechselte ihren Platzlas die Aufschrift eines neuenStandes und einen neuen Namen.

Fritz folgte.

Sie lachtesie ging weiter; und sie ging zurückum die Hunde zu liebkosen.

Fritz folgte nur.

Sie führteund er folgte.

Er schien sie nicht anzusehen. Aber seine Augen verweilten auf dem Saumeihres Kleidesauf ihrer ausgestreckten Hand mit dem Blick wilder Tierediegezähmt werdeneinem lauernden haßerfüllten Blickder doch gleichzeitigsich seiner Ohnmacht bewußt ist.

Eines Abends kam sie auf ihn zu. Ihr Mann hatte sich ein Stück entfernt. Erschlug die Augen aufund sie sagte leise:

»Fürchten Sie mich?«

Er schwieg einen Augenblick.

»Ich weiß nicht«sagte er dannheiser und hart.

Und sie wußte nichts mehr zu sagen - verwirrt oder fast ängstlich (eineAngstdie sie plötzlich nüchtern machte) infolge des begehrenden Blickesdensie auf ihren Füßen brennen fühlte.

Sie wandte sich um und ging mit einem kurzen Lachendas ihr eigenes Ohrverletztefort.

Am nächsten Abend war Fritz nicht Stallmeister. Er hatte sich selbst gesagter wollte ihr aus dem Wege gehener hatte fest beschlossener wollte sie nichtmehr sehen. Er besaß alle jene überkommene Furchtdie den Artisten vor denFrauen als ihrem Verderben eigen zu sein pflegt. Er betrachtete sie alsmystische Feindedie auf der Lauer lägen und nur geboren wärenseiner Kraftnachzustellen. Und wenn er sich einmal hingab - plötzlichvonunwiderstehlichem Drange ergriffen -geschah es mit einer Art verzweifelterSelbstaufgabemit einem rachsüchtigen Haß gegen das Weibdas ihn nahm undihm ein Stück seines Körperseinen Teil seiner Kraft raubte - daswas seinteures Werkzeug warsein einziges Existenzmittel.

Aber vor dieser Dame in der Loge fürchtete er sich doppeltdenn sie wareine Fremde und keine von den Seinen. Was wollte sie von ihm? Selbst der Gedankean sie peinigte sein Hirndas nicht ans Denken gewöhnt war. Er wachte mit mißtrauischerAngst über jede Bewegung dieser Fremden aus einer andern Rasseals wollte sieihm etwas geheimnisvolles Böses antuner wußteer vermochte ihr nicht zuentfliehen.

Er wollte sie nicht mehr sehen - neiner wollte sie nicht sehen.

Es wurde ihm leichtdas Gelübde zu halten; denn sie kam gar nicht mehr.Zwei Tage nichtdrei Tage nicht - Am vierten Abend stand Fritz wieder alsStallmeister da. Aber sie kam nicht. Auch diesen Abend nicht. Auch am nächstenkam sie nicht.

So lang der Tag auch warmit Angst dachte er: »Wenn sie kommt«und amAbend empfand er einen dumpfen Zorneine brutaleaber stumme Wutweil sienicht kam.

So hatte sie ihn also zum Narren gehalten. So hatte sie ihn also verspottet.So - ein Frauenzimmer! Aber er wollte sich rächener würde sie schon finden -

Und er sahwie er sie mit Schlägen überhäuftesie mit Füßen tratsiemißhandelteso daß sie sich krümmte und halbtot liegen blieb: sie - dasFrauenzimmer.

Stundenlang lag er nachts in stummer Wut da. Und sein Begehren wuchs sich indiesen ersten schlaflosen Nächten so verzweifelt gierig festdenn er hattenoch niemals schlaflos gelegen.

Dann endlich - am neunten Tage kam sie.

Vom Trapez aus erblickte er ihr Gesicht - als wenn er mit den Augen einesandern zu sehen vermochte - und mit einem plötzlichen Ruckewie inknabenhaftem Jubelschleuderte er seinen schönen und schlanken Körperan dengestreckten Armen hängendhinaus in die Luft.

Sein ganzes Gesicht strahlte in schimmerndem Lächelnund er schwang sichwieder empor.

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Leicht wiegte er das Haupt im Walzertakt; und er ergriff Aimees Handfestund frohwie seit sieben Tagen nichtund er sprach zu ihr:

»Enfin - du courage«rief er laut.

Es klang wie ein Siegesschrei. Und als er dann in seiner Stallmeisteruniformin den Stall hinauskam und sie sahstand er wieder stumm und feindlichund betrachtete sie gehässig mit demselben Blickder ihr nicht recht in dieAugen zu sehen wagte.

Aber nach der Vorstellungim Restaurantwurde er plötzlich wiederausgelassen - fast wild. Er lachte und machte allerhand Kunststücke. Er spieltemit Tassen und mit Seideln und ließ seinen Zylinderhut balancieren - mit derSeite - auf der Spitze seines Stockes.

Die andern Artisten wurden von seiner lustigen Stimmung mitgerissen.

Der Clown Tom holte seine Harmonika und spielteindem er mit seinen langenBeinen über die Stühle hinschritt.

Es entstand ein ungeheures Hallo. Alle machten Kunststücke. Mr. Fillis ließeine mächtige Tüte auf seiner Nase balancierenund zweidrei Clowns kakeltenals wäre man mitten in einem Hühnerhof.

Aber Fritz schrie am lautestennachdem er auf einen Tisch gestiegen war; erspielte Ball mit zwei Glaskuppelndie er von einem Gaskronleuchter abgeschraubthatteund schrieüber sein ganzes Gesicht strahlendin den Spektakel hinein:

»Adolftiens! «

Adolf fing die Kuppel; er stand auf dem nächsten Tisch.

Die Artisten waren bald obenbald unteneinige auf Tischenandere aufStühlen. Die Clowns kakeltendie Harmonika stieß Klagetöne aus.

»Fritztiens!«

Die Kuppeln flogen wieder hin und zurück - über die Köpfe der Clownshinweg. Fritz fing sie und wandte sich plötzlich um:

»Aimeetiens!«

Er warf sie gerade auf sie zuund Aimee sprang auf. Aber sie kam nicht mehrzur Zeitund die Kuppel fiel zu Boden und zerbrach.

Fritz lachte und betrachtete das zersplitterte Glas von seinem Tisch herab.

»Das bringt Glück«sagte er und lachte; plötzlich stand er still undblickte in das Licht der Gaskrone hinauf. Aimee hatte sich abgewandt. Bleichsetzte sie sich wieder an der Wand nieder.

Der Spektakel dauerte an. Die Uhr war nahezu zwölf. Die Kellner schraubtendas Gas herab. Aber die Artisten hörten nicht aufsie verdoppelten nur denLärm in dem Halbdunkel. Ringsum aus allen Ecken hörte man ein ohrenzerreißendesKakeln und Schreienauf dem Tisch unter dem Kronleuchter ging Fritz auf denHänden.

Er war der letzteder hinauskam - er war so aufgeregtals wäre erbetrunken.

In kleinen Häuflein schritten sie alle dahin. Nach und nach trennten siesichgruppenweise. Zum Abschied ertönten viele seltsame Laute in dieDunkelheit als letzte Grüße hinaus.

»Night«rief Mr. Fillisder durch die Nase sprach.

»AbendAbend -«

Dann wurde es endlich stillund die vier Teufel schritten stummwiegewöhnlichnebeneinander dahin.

Sie sprachen nicht mehr. Aber Fritz konnte sich noch nicht beruhigen. Er ließwieder seinen guten Hut in der Luft auf der Spitze seines Stockes herumkreiseln.

Sie erreichten ihre Wohnung und sagten sich gute Nacht.

In ihrem Zimmer machte Fritz beide Fenster weit auf und begann laut zupfeifenweit hinaus in die Gasse.

»Du bist verrückt!« sagte Adolf. »Was Teufel fehlt dir eigentlich?«

Fritz lachte nur:

»Il fait si beau temps«sagte er nur und fuhr fort zu pfeifen.

Unten hatte auch Aimee ein Fenster geöffnet. Luisedie im Begriff warsichauszuziehenrief ihr zusie sollte es zumachenaber Aimee blieb stehen undstarrte in die enge Gasse hinaus.

Bisher hatte sie nicht begriffen - warum seine Augen leer geblieben warenwenn er sie ansahwarum seine Stimme gleichsam müde geworden warwenn er mitihr sprachauch nichtdaß seine Ohren halb geschlossen warenwenn sieredete -

Und es warals wären sie nicht mehr dieselbenwenn sie einander noch sonahe saßen -

Und nun puderte er auch nicht mehr ihre Arme!

Das war seit gestern.

Er kam so eilig und ungeduldig hineinwie es nun seine Gewohnheit war. Undsie streckte ihm ihre Arme entgegenund er starrte sie nur gedankenlos anohnesich auf etwas zu besinnen:

»So pudre dich doch«sagte er dann heftig und lief davon.

Und ohne zu begreifenpuderte sie langsam den linken Arm und dann denrechten -

Ach neinach nein - niemals hatte sie gewußtdaß man so leiden könnte.

Aimee lehnte den Kopf an den Fensterrahmenund die Tränen begannen ihrüber die Wangen herabzufließen.

Nun wußte sie alles. Nun verstand sie -

Plötzlich hob sie den Kopf wieder emporsie hörtedaß Fritz auf einmalbegonnen hattelaut vor sich hinzusummen.

Das war der »Liebeswalzer.«

Lauter und lauter summte er -- nun sang er.

Wie froh er sangwie glücklich! jeder Ton schmerzte sieund doch blieb siestehen: es warals wenn dieser Gesang ihr allesihr ganzes Leben ihr insGedächtnis zurückrief.

Wie gut sie sich darauf besann - vom ersten Tage an -

Luise rief sie wiederund mechanisch schloß sie das Fenster. Aber sie gingnicht zu Bettstill setzte sie sich nur in die dunkle Ecke.

Wie gut sie sich auf alles besann.

Drittes Kapitel

Wie deutlich Aimee den Fritz und Adolf noch sahals sie das erste Mal zuihnen kamen - als sie bei »Vater« Cecchi »angenommen« werden sollten.

Es war am Morgenund Aimee und Luise lagen noch im Bett.

Und die Jungen hatten in der Ecke gestandenmit geneigten Köpfen - sietrugen Leinenhosenmitten im Winterund Fritz hatte einen Strohhut. Und siewurden ausgezogenund Vater Cecchi befühlte sie und drückte ihre Beine undbeklopfte ihren Brustkastenbis sie weintenwährend die alte Fraudie siehingebracht hattenur ganz stillzusammengeschrumpeltmit mummelndem Mundedastand - nur die schwarzen Blumen auf ihrem Hut zitterten ein wenig.

Sie fragte nichts. Sie sah nur die Jungen an und folgte ihnen mit den Augen -wie sie nackt unter Cecchis Händen exerzieren mußten -

Auch Aimee und Luise sahen vom Bett aus zu.

Vater Cecchi fuhr fort zu befühlen und zu beklopfen; das Leben der Jungensaß gleichsam in ihren angstvollen Augen.

Dann wurden sie »angenommen«.

Die alte Frau sprach kein Wort. Sie rührte die Jungen nicht an und sagteihnen nicht Lebewohl. Es warals wenn sie die ganze Zeitwährend ihreHutblumen zittertennur etwas suchte - irgend etwasdas sie nicht fand. Und soging sie auch zur Türe hinauslangsamunentschlossenund machte sie hintersich zu.

Fritz schrie einmal aufein langer Kinderschreials würde er gestochen. -

Aber dann gingen sie beideer und Adolfin ihre Ecke zurück und setztensichdas Kinn auf ihre Knie niedergebeugt und die geballten Hände fest gegenden Boden gestemmtalle beide stumm nieder.

Vater Cecchi jagte sie in die Küche hinausKartoffeln zu schälen. Aimeeund Luise wurden ihnen nachgeschickt. Alle vier saßen sie stumm um dieSchüssel herum.

Luise fragte:

»Woher kommt ihr?«

Aber die Jungen antworteten nicht. Sie kniffen nur die Lippen zusammen undblickten zu Boden.

Es verging einige Zeitbis Aimee flüsterte:

»War das eure Mutter?«

Aber sie antworteten noch immer nicht - sondern saßen nur mit schluchzenderBrustals wenn sie innerlich weinten. Und man hörte nur den Laut derKartoffelndie in das Wasser hineinplumpstennachdem sie geschält waren.

»Ist sie tot?« flüsterte dann Luise.

Aber die Jungen antworteten noch nichtund die beiden Mädchen sahen nurstill von dem einen zum andernwährend Aimee plötzlich ganz leise zu weinenbegann und dann auch Luise - alle beide saßen sie und weinten.

Am nächsten Tage begannen die Jungen zu »arbeiten«.

Sie lernten den »chinesischen Tanz« und den »Bauerntanz«. Nach Verlaufvon drei Wochen traten sie alle vier auf.

Wenn sie tanzen solltenstanden sie paarweise in den KulissenAimee mitFritzLuise mit Adolfmit starren Augenund benetzten ihre Lippen mit derZunge vor Angstindem sie auf die Orchestermusik lauschten.

»Zieh die Jacke herunter«sagte Aimeedie selbst vor Fieber kaum ruhigstehen konnteund zog Fritzens Jacke herabdie schief saß.

»Commencez!« rief Cecchi aus der ersten Kulisse. Der Vorhang waraufgegangensie sollten hinaus.

Sie sahen nicht die Lampenreiheund sie sahen nicht die Leute.

Mit erschrecktem Lächeln machten sie ihre einexerzierten Schritteindem sieden Takt zählten und die Lippen bewegtendie Augen hielten sie starr aufCecchi gerichtetder in der ersten Kulisse mit den Füßen den Takt trampelte.

»Nach links!« flüsterte Aimee Fritz zuder es niemals zu behaltenvermochte; sie schwitzte vor Angst für sie beide und mußte für sie beideGedächtnis haben.

Sie glichen alle zusammen Wachsfigurendie sich auf einem Leierkastenherumdrehen.

Das Publikum klatschte und rief sie vor. Apfelsinen fielen auf die Bühneherab. Sie hoben sie auf und lächelten zum Dank dafürobgleich sie sie Cecchiabliefern mußtender sie nachts zu seinem Kognak mit Wasser aßwenn er mitdem Agenten Watson Karten spielte.

Vater Cecchi spielte nämlich die ganzen Nächte durch mit dem Agenten daheimin ihrem Logis.

Die Kinder erwachtenwenn sie sich zanktenund sahen mit aufgerissenenAugen von ihren Betten aus zubis sie todmüde wieder in Schlaf fielen.

So verging die Zeit.

Die Cecchi-Truppe kam zu einem Zirkusund alle vier machten das ganzeHandwerk durch.

Sie begannen ihre Proben um halb neun. Zähneklappernd kleideten sie sich umund begannen in dem halbdunklen Zirkus zu arbeiten. Luise und Aimee gingen aufder Leineindem sie mit zwei Fahnen balanciertenwährend Vater Cecchiderrittlings auf der Barriere saßkommandierte.

Dann wurde das Pferd vorgeführtund Fritz sollte den Jockeysprungausführen.

Vater Cecchi kommandiertemit einer langen Peitsche bewaffnet. Fritz sprangund sprang. Es gelang ihm nicht. Er fiel auf die Barriere herab. Er stütztesich auf das Pferd. Die Peitsche sauste herab und traf sein Beinso daß erlange Striemen erhielt.

Vater Cecchi fuhr fort zu kommandieren. Mit dem Weinen kämpfendsprang derJunge und sprang.

Er kam wieder nicht hinauf und fiel.

Die alten Wunden an seinem Körper brachen auf und blutetenso daß das alteTrikot Blutflecke bekam.

Vater Cecchi rief nur immer wieder: Encore - encore!

Atemlosschluchzend zwischen den tiefen Atemzügensprang Fritz mitschmerzverzogenem Gesicht.

Die Peitsche traf ihnund verzweifelt sagte er:

»Ich kann nicht!« Aber er mußte von neuem hinauf.

Das Pferd bekam doppelte Schläge und flog schnell mit dem schluchzendenKnaben dahindessen Glieder vor Schmerz zitterten: »Ich kann nicht!« rief erqualvoll.

Die Artisten sahen stumm vom Parkett und den Logen aus zu.

»Encore!« rief Cecchi. Fritz sprang wieder ab.

Bleichmit weißen Lippenin der Ecke einer Loge verborgensah Aimee vollAngst und Erbitterung zu.

Aber Vater Cecchi hörte nicht auf. Eine Stunde dauerte esfünfViertelstunden. Fritzens Körper war nur eine einzige Wunde. Er fiel wieder undwiederstampfte vor Schmerz mit den Füßen in den Sand und fiel abermals.

Neinnun gelang es nicht mehr. Und er wurde mit einem Fluch fortgeschickt.

Aimee lief aus der Loge heraus; stöhnend vor Schmerzverbarg sich Fritz wieein Tier hinter einem Haufen Tonnenreifen. Atemlosmit geballten Händenstieß er in wilder Wut abgerissene Flüche auseine Menge GassenworteSchimpfworte des Stalles.

Aimee saß ganz still. Nur ihre weißen Lippen bebten.

Lange saßen sie so hinter dem Haufen Reifen verborgen. Fritzens Kopf sankhinten gegen die Wandund er schlief in schmerzvoller Ermattung einwährendAimee mit ihrem weißen Gesicht unbeweglich sitzen bliebals wachte sie überseinen Schlaf.

Jahre vergingen. Sie waren bereits erwachsen.

Vater Cecchi war tot. Er wurde von dem Huf eines Pferdes totgeschlagen.

Aber sie blieben beisammen. Es ging mit ihnen auf und nieder. Sie waren beigroßen Gesellschaftenund sie kamen auch zu ganz kleinen.

Wie deutlich Aimee noch das weißgekalkte und kahle Provinzpantheon sahindem sie in jenem Winter arbeiteten. Wie eiskalt es dort war. Sie trugen vor derVorstellung drei Kohlenbecken hineinund der ganze Zirkus füllte sich mit demRauchso daß man kaum zu atmen vermochte.

Draußen im Stall standen die Artistenblaugefrorenund hielten ihrenackten Arme über ein Kohlenbecken hinund die Clowns sprangen in ihrenSchirtingschuhen auf dem bloßen Boden herumnur um die Füße warm zu erhalten.

Die Cecchitruppe arbeitete in allen Fächern. Sie tanztenFritz war AimeesPartner. Aimee war ParforcereiterinFritz schnallte als Stallmeister ihrenSattelgurt fester.

Die Truppe plagte sich; sie füllte fast das halbe Programm aus.

Aber es ging nicht. Jede Woche verschwand ein Pferd aus den Ständendasverkauft wurdeum für die andern Futter zu schaffen. - Die Artistendie Geldhattenreisten fortdie zu bleiben gezwungen warenhungerten - bis endlichalles zu Ende war und sie schließen mußten.

PferdeKostümealles wurde ihnen fortgenommen. Das Gericht war gekommenund hatte reinen Tisch gemacht.

Es war an dem Abend des Tagesda dies geschehen war.

Die wenigen Artistendie noch übrig warensaßen stumm und betrübt in demdunklen Raum. Sie konnten nicht fort. Sie wußten auch nichtwohin sie gehensollten.

Im Stall auf einem Futterkasten saß der Direktor vor den leeren Ständen -und weinteindem er fortwährend immer wieder dieselben Flüche in allenSprachen murmelte.

Sonst war es ganz stillganz tot.

Nur die Hunde - die hatte das Gericht vergessen - lagen traurig mit wachsamenAugen auf einem Haufen Stroh.

Die Cecchitruppe ging in das Restaurant hinein. Alles war verlassen. Der Wirthatte sein Büfett geschlossen und die Gläser herabgenommen. Stühle und Tischestanden staubig durcheinander.

Die vier saßen stumm in einer Ecke. Sie kamen von der Post. Das war ihrtäglicher Gang. Sie holten Briefe von den Agenten - Absage auf Absage.

Fritz öffnete sie und las sie. Die andern drei saßen neben ihm und wagtennicht zu fragen.

Er öffnete Brief auf Brief und las langsamgleichsam mißtrauisch - undlegte jeden Brief beiseite.

Die andern sahen ihn nur an - stumm und verzagt.

Da sagte er:

»Nichts.«

Und sie saßen wieder vor den traurigen Briefendie ihnen nichts gebrachthatten.

Dann sagte Fritz:

»So geht es nicht weiter. Wir müssen eine Spezialität suchen.«

Adolf zuckte die Achseln. »Es gibt auf allen Gebieten genug«sagte erhöhnisch. »Erfinde etwas Neues!«

»Luftarbeit macht sich bezahlt«meinte er gedämpft.

Die anderen schwiegenund Fritz sagtewie vorher:

»Wir könnten in den Kuppeln arbeiten.«

Wieder trat Schweigen einbis Adolf fast zornig rief: »Du bist deinerGlieder wohl sicher?«

Fritz antwortete nicht. Es war eine Welle ganz dunkel und still.

»Wir könnten uns auch trennen«sagte Adolf heiser und ganz leise.

Sie alle hatten denselben Gedanken gehabtund alle fürchteten sich davor.Nun war er ausgesprochenund Adolf fügte hinzuindem er in die Dunkelheit undin den verlassenen Raum vor sich hinstarrte:

»Man kann doch nicht immer weiter an derselben Schüssel hungern!«

Er sprach in unterdrücktemerregtem Tonwie Leutedie sich um des TeufelsBart streiten; aber Fritz schwieg noch immerohne sich zu rührenund starrtezu Boden.

Sie erhoben sich und gingen stumm hinaus. In allen Gängen war es kalt unddunkel.

Leise sagte Aimeewährend sie dicht nebeneinander hinschrittenmit einerStimmedie Fritz kaum zu vernehmen vermochte:

»Fritzich arbeite mit dir in der Luft!«

Fritz blieb stehen:

»Ich wußte es«sagte er leise und ergriff ihre Hand. Luise und Adolfsagten nichts.

Sie beschlossen in der Stadt zu bleiben. Fritz versetzte ihre letzten Ringe.Adolf blieb nurum an die Agenten zu schreiben. Aber Fritz und Aimee arbeiteten.

Sie hatten ihr Trapez im Pantheon aufgehängt und begannenjeden Tag zuarbeiten. Sie übertrugen einige der Parterreübungen auf das Trapez undquältenin Schweiß gebadetstundenlang ihre Körper.

Viertelstunde um Viertelstunde ertönten Fritzens Kommandoworte. Dann ruhtensie sich nebeneinander auf demselben Trapez ausmit müdem und mattem Lächeln.

Sie begannen sich an die Arbeit zu gewöhnenund sie fingen mit denHanloo-Voltaschen Übungen an. Sie versuchten die Sprünge zwischen denSchaukelnkopfüber fielen sie in das aufgespannte Netz hinab.

Aber sie setzten die Übungen fortindem sie sich durch Geschrei anspornten:

»En avant!«

»Ça va!«

»Encore!«

Fritz kam hinüberAimee fiel.

Sie setzten die Arbeit fort.

Die Seele lag in ihren Augenwie Federn spannten sich ihre Muskeln; wieunterdrücktes Kampfgeschrei klangen ihre Stimmen: sie kamen hinüber.

Der eine folgte dem andern mit dem Blickewie gebanntfieberhaft:

»En avant - du courage!«

Aimee war hinübergekommen: ihre Muskeln bebtenwährend sie an dementferntesten Trapez hing. Sie versuchte noch einmalund es glückte wieder.Eine Freude überkam sie. Es warals wenn sie sich an der Kraft ihrer Körperberauschten. Sie flogen aneinander vorbeiund sie ruhten wiederschweißtriefendlächelnd - Hand in Hand.

Von Freude ergriffenrühmten sie gegenseitig ihre Leiberstreichelten dieMuskelndie sie trugenund blickten einander mit strahlenden Augen an:

»Ça vaça va«riefen sie und lachten.

Sie begannenschwierigere Übungen vorzunehmen. Sie erdachten sich neueKombinationen. Sie versuchtenund sie berechneten. Sie vertieften sich in dieÜbungen mit dem Eifer des Erfindersverhandelten darüber und sannen aufAbwechslung. Fritz schlief fast nicht mehr: der Gedanke an die Arbeit hielt ihnwährend der Nächte wach.

Morgensbevor die Sonne aufgingklopfte er an Aimees Türe und weckte sie.

Und draußen entwickelte er bereitsnoch während sie sich anzogseinePläneerklärte ihrmit lauter Stimme rufendund sie antworteteeifrig wieerso daß sie das Haus mit ihren frohen Stimmen erfüllten.

Luise rieb sich die Augen und setzte sich im Bett aufrecht hin.

Sie hatte begonnendie Übungen zu besuchen. Sie wurde von dem Fortgang derArbeit mitgerissen; sie rief ihnen zuund sie applaudierte. Sie antworteten vonoben; der Raum hallte widerimmer erfüllt von ihren frohen Stimmen.

Nur Adolf saß stumm in einer Ecke beim Stall.

Eines Tages war auch er hineingekommen und hatte sich dort hingesetzt und sahzu. Niemand sprach zu ihm.

Die Übung war vorüber; ihre Kräfte waren zu Ende: schwer fielen sie in dasausgespannte Netz herab.

Fritz sprang auf den Boden hinunter und hob vorsichtig Aimee aus dem Netzheraus: Froh hielt er sie einen Augenblick in den emporgestreckten Armen fest -wie ein Kind.

Sie zogen sich um; und sie gingen in eine kleine Kneipe hinüberum zu essen.

Sie begannenvon der Zukunft zu redendavonwo sie Engagement suchenkönntenvon der Gagedie sie zu erlangen vermochtenvon dem Namenden sieannehmen wollten - von dem Erfolgder ihrer wartete.

Die beiden sonst so Stummen wurden beredtsie lachtensie bauten ihreZukunft auf. Fritz ersann neue Übungen - immer neue:

»Wenn wir es wagten«sagte Fritzganz heiß vor Eifer -»wenn wir eswagten.«

Und Aimee antwortetedie Augen auf ihn gerichtet:

»Warum nicht? Wenn du willst!«

Etwas in ihrem Ton rührte Fritz:

»Du bist tapfer«sagte er plötzlich und sah sie an: Ihre Augen leuchtetenihm entgegen.

Und beide saßendie Köpfe gegen die Wand gelehntstarrten lange Zeit vorsich in die Luft hinaus und träumten.

Eines Tages versuchten sie zum ersten Mal den letzten Sprungdenvon demsie sich einig warendaß er die große Spezialität bilden würde: er glückte- rücklings erreichten sie die Trapeze.

Von unten ließ sich ein Ruf vernehmen. Es war Adolf. Mit emporgewandtemGesichtmit strahlenden Augen schrie er Bravo - Bravoso daß es in dem leerenRaum widerhallte: »Bravobravo!« schrie er wiedervon Bewunderung ergriffen.

Und sie begannenmiteinander zu redenalle vierauch Luisevon oben unduntenerklärend und fragend.

An diesem Tage aßen sie zusammenund auch am nächsten. Sie sprachen allevon den Übungenes warals wenn sie alle mit dabei wären. Fritz sagte:

»JaKinder - wenn wir zu vieren arbeiteten. IhrAdolfoben - nur mitfesten Barren und Mühlenund wirwir beideAimeeunter euch - mit demTodessprung - jawenn wir das täten -«

Er fing anihnen seinen neuen Plan zu erklärenindem er alle Evolutionenausmalte; aber Adolf blieb stummund Luise wagte nicht zu antworten.

Aber am nächsten Tage sagte Adolf - er stand gesenkten Blickes vor ihm undsetzte die Füße vor und zurück:

»Probt ihr heute nachmittag?«

Neinnachmittags probten sie nicht.

»Denn« - sagte Adolf - »man verliert seine Zeitund die Glieder werdeneinem steif -«

Am Nachmittag begannen Adolf und Luise zu proben. Die beiden andern kamen undsahen zu. Sie ermunterten sie und belehrten sie.

Fritz saß heiter da und spielte mit Aimees Hand.

»Ça vaça va!« riefen sie beide von unten.

Oben flogen Luise und Adolf dreist zwischen den Schaukeln auf und ab:

»Ça vaça va!«

Sie wußtennun blieben sie beisammen.

Die Proben waren zu Ende. Die »Nummer« war fertig.

Sie arbeitetenwie Fritz es gewollt hatte. Sie nannten sich »Die vierTeufel« und ließen sich in Berlin Kostüme zeichnen und anfertigen.

Sie debütierten in Breslau. Dann zogen sie von Stadt zu Stadt. Der Erfolgblieb überall derselbe.

Aimee hatte sich ausgezogen und war zu Bett gegangen.

Schlaflos lag sie da und starrte in die Finsternis hinauf. Ja - wie deutlichsie das alles sah vom ersten Tage an.

Das ganze Leben hatten sie zusammen verbracht - das ganze LebenSeite anSeite.

Und nun war sie gekommensiediese Fremde - und bei dem Gedanken biß dasAkrobatenmädchen in ohnmächtigerverzweifelterrein physischer Wut dieZähne zusammen -um ihn zu verderben.

Was wollte sie von ihmsie mit ihren Katzenaugen? Was wollte sie vonihmmit ihrem Dirnenlächeln? Was wollte sie von ihmund warum bot sie sichihm wie eine Metze an? Ihn vernichtenihn ihr raubenseine Kraft zerstören -ihn zugrunde richten?

Aimee biß in ihr Bettuchballte ihre Kissen zusammen und fand keine Ruhefür ihre fieberheißen Hände.

Ihre Gedanken wußten nicht genug ohnmächtige Scheltwortezornige Vorwürfeund rohe Beschuldigungen - bis sie wieder weinte; und wieder fühlte sie all denlähmenden Schmerzder sie Tag und NachtTag und Nacht verfolgte.

Viertes Kapitel

Fritz lag mit geschlossenen Augensein Kopf ruhte in dem Schoß derGeliebten.

Langsam und langsamer glitt die Spitze ihrer Nägel über sein blondes Haar.

Fritz blieb mit geschlossenen Augen liegensein Kopf ruhte leicht in ihremSchoß: also wirklich - erFritz Schmidt aus der Frankfurter Gasseerdervaterlose Jungedessen Mutter eines Tagesals sie betrunken warin den Flußsprang und dessen Großmutter ihn verkauft hatte - ihn und den Bruder - fürzwanzig Mark. -

Also wirklicherFritz Schmidtgenannt Cecchi von den »vier Teufeln«war ihr Liebhaber gewordender Liebhaber der »Dame aus der Loge«. Das war seinNackender auf ihren Knien lag. Das war sein Armder ihren Leibumfassen durfte. Das war sein Halsauf dem nun ihre Lippen ruhten.

ErFritz Cecchi von den »vier Teufeln«!

Und er öffnete halb die Augenund er sah mit derselben nicht begreifendenberauschten Verwunderung ihre feine Handdie so weich wardie keine Arbeitverunstaltet hatteihre hellroten gewölbten Nägelihre mattweiße Hautdieer so gern weich und lange küßte. -

Ja - die Hand glitt über seine Stirn hin.

Er war esder im Atmen den Duft ihres Körpers empfandder ihm nahe warihrer Kleiderderen Stoffe Wolken ähnelten - o wie seine Hände so gern übersie hinstrichen. -

Auf ihn wartete sie nachts an dem hohen Gitterund sie fror während desWartenswie vor Kälte. Ihn führte sie durch den kleinen Garten desPalais und hängte sich in jedem Gebüsch an ihn. -

Seine Lippen nannten sie ihre »Blume«seine Arme nannte sie ihr»Verderben«.

Ja - solch sonderbare Worte sprach siesie sagte: seine Lippen seien eineBlumeseine Arme ein Verderben.

Fritz Cecchi lächelteund er schloß wieder seine Augen. -

Sie sah sein Lächelnund sie bog den Kopf über ihn herab und führte ihreLippen weich über sein Gesicht hin.

Fritz fuhr fort zu lächeln - gebannt von derselben Verwunderung:

»Aber das ist sonderbar«sagte er leise und fuhr immer in demselben Tonefort: »Aber das ist sonderbar«und er drehte seinen Kopf ein wenig hin undher.

»Was denn?« fragte sie.

»Dies!« erwiderte er nur und lag wieder still unter ihren Küssenalsfürchtete eraus einem Traum zu erwachen.

Er lächelte noch immer: In Gedanken wiederholte er ständig ihren Namenimmer wieder über ihren Namen erstaunt - einen von den großen Namendie voneuropäischem Klang sind und der selbst bis zu ihmwie eine Sageherabgelangtwar.

Und langsam schlug er wieder die Augen auf und sah sie an und faßte mitbeiden Händen nach ihren Ohren und lachte wie ein Jungewährend er sie kniff- fester und fester: auch das durfte er - auch das.

Er richtete sich halb empor und schob seinen Kopf zu ihrer Schulter hinauf.Immer mit demselben Lächeln sah er sich in der Stube um:

All das war ihm untertänigalleswas ihr gehörte: diese tausendzerbrechlichen Nippesgegenständedie die seltsamen dünnbeinigen Möbelbedeckten: Beinahe wagte er auch sie nicht zu berührenerder Jongleurfaßte sie so behutsam anals würden sie zwischen seinen Fingern zerbrechen;bald konnte er voll Übermut - denn er war hier HerrerFritz Schmidt - miteinem Luxustisch Ball spielen oder eine ganze Etagere balancierenwährend sielachteimmerfort lachte.

Die Gemälde waren ihm fremdBilder von Ahnen in der Tracht der»Restaurationszeit« mit Galadegen und behandschuhten Händen.

Es gab Augenblickeda er plötzlich den Bildern lautausgelassen insGesicht lachtewie ein Straßenjunge - unaufhörlich lachtedaß erFritzSchmidthier bei ihr saßdem Sprößling dieser Ahnenund daß sie nun die Seinewar.

Und er fuhr fort zu lachen und zu lachen - ohne daß sie begriffwarum. Undzuletzt sagte sie:

»Aber warum lachst du denn?«

»Jaja«erwiderte er und hörte plötzlich auf zu lachen: »denn dies istsonderbardies ist so sonderbar -«

Er empfand ein eigentümlicheshalb glücklicheshalb scheues Erstaunen -daß er hier war.

Daß er hier Herr war!

Denn er fühlte sich als Herr: sie war ja sein. Er besaß sie. In seinemunzivilisierten Hirn ruhten noch alle Gedanken von dem unbegrenzten Besitz desMannes - dem Besitz der »Frauenzimmer« -erder Handelndeder selbst imverzehrenden Genuß noch der Überlegene war und sie unter sich zerdrückenkonnte.

Aber all diese männlichen Urvorstellungen bei Fritz - dem es eine Wollustbereitetesie zu bändigen und zu zähmen und zügellos zu gebrauchen -schwanden wieder macht- und hilflos vor seiner stummenerneuten Verwunderungüber sie: ihr unbedeutendstes Wort war von anderem Klang und hatte anderenTonfall; ihre geringste Bewegung war von anderer Art; ihr Körperjeder Teildesselbenwar von andererfremder Schönheitunentwickelt und zart. -

Und er wurde gefügig und furchtsamund er schlug plötzlich diegeschlossenen Augen aufum zu sehenes war kein Traumund langsam liebkosteer ihre feinenschlanken Finger: jaes war die Wahrheit!

Ihre Hände glitten immer zögernder und zögernder durch sein Haarund seinAtem wurde schnellerwährend er dalagals wenn er schliefe.

Plötzlich schlug er die Augen auf:

»Aber was wollen Sie denn von mir?« sagte er.

»Du dummer Mann«flüsterte sie und hielt ihren Mund dicht über seinerWange: »Du dummer Mann!«

Sie fuhr fortnahe seinem Ohr zu flüstern - der Ton ihrer Stimme erregteihn noch mehr als ihre Liebkosungen -:

»Du dummer Manndu dummer Mann -«

Und als wenn sie den schönen und apathischen Körper in einen Rauscheinlullen wollteflüsterte sie:

»Du dummer Manndu dummer Mann!«

Aber er erhob sich nur und sagte mit seinem ständigen Lächelnwährend erneben ihr saßihren Kopf an seine Brust drückte und sie unsäglich zärtlichansah:

»Könntest du hier schlafen?« und er wiegte sie in seinem Arm wie ein Kindbis sie beide lachtenAug in Auge.

»Du dummer Mann!«

Da flammten seine Augen aufund er ergriff sie; schnellohne ein Worttruger sie vor sich her in erhobenen Armendurch das Zimmer hin - dort hinein.

Nur die hellblaue Ampel sah still zuwie ein schläfriges Auge.

Der Tag grauteals sie schieden. Aber in allen Ecken auf den Stufen derTreppeim Garten mitten vor dem stillen Hause - das so vornehm und ehrbar mitverhüllten Scheiben dalag - verlängerten sie noch die geistlosen Stunden ihresStelldicheinswährend sie noch immer dieselben drei Worte flüstertediegleichsam der Refrain ihrer Liebesworte wurden - einer Liebederen einzigeSeele der Instinkt war -:

»Du dummer Mann!«

Dann riß Fritz sich losund die Gittertüre fiel hinter ihm zu. -

Aber sie blieb stehenund noch einmal kehrte er zurück. Er nahm sie nocheinmal in seine Armeund plötzlich lachte er - während er vor dem großenPalais neben ihr stand.

Und als wenn ihre Gedanken sich begegnetenlachte auch sie - zum Hause ihrerVäter empor.

Und er begann - indem er mit seiner Neugier einen besonderen Triumph genoß -nach jedem einzelnen von den großen steinernen Wappen über den Fensternnachjeder Inschrift der Portale zu fragenund sie antwortete ihm und lachte undlachte.

Es waren die stolzesten Namen des Landes. Er kannte sie nichtaber sieerzählte von jedem etwas.

Es war Geschichte von EhrungenGeschichte von KämpfenGeschichte vonSchlachtensiegern.

Er lachte.

Da waren Schildedie den Thron geschirmt hatten. Da waren Zeichendieselbst auf St. Peters Stuhl hindeuteten.

Er lachte.

Als würde sie von ihrer Unwürdigkeit selbst erhitztwurden ihreLiebkosungen heißerroh und fast blasphemisch in diesem dämmerndenTageslichtwährend sie fortfuhr zu erzählenals wollte sie eines nach demandernWort für Wort die Schilde ihres Vaterhauses herabreißen und in demSchmutz ihrer Liebe zerschmettern.

»Und das?« fragte er und zeigte auf ein Wappen.

»Und das?«

Und sie fuhr fort zu erzählen.

Es war Geschichte von Jahrhunderten. Hier waren Throne erbaut undKönigsthrone zusammengestürzt. Der war der Freund eines Kaisers. Der wurde derTod eines Königs.

Und sie fuhr fort zu reden - flüsternd mit neckendem Spottindem sie sichan die Schulter des Akrobaten lehnte und sich selbst dem Eindruck dieserEntweihung hingab.

Auch er wurde berauscht.

Es warals sähen sie beidehier vor ihren Augenselbst die Vernichtungund genössen sie - genössen Minute für Minute den Fall dieses großen Hauses- mit WappenPortalenSchildenGedächtnistafelnTurmspitzen -des Hausesdas unter dem Mühlstein ihres Triebes vernichtet wurde und zusammenstürzte.

Dann riß sie sich endlich los und flüchtete den Gang hinauf.

Noch einmal wandte sie sich in der kleinen Türe um und warf mit winkenderHand - gleichsam als letzten Scherz - dem großen Wappenschild auf demTürgiebel eine Kußhand zu und lachte. -

Fritz ging nach Hause. Es warals hätte er Flügel unter den Füßen. Erempfand gleichsam noch alle ihre Liebkosungen.

Ringsum erwachte die große Stadt.

Wagen ratterten die Straße entlang. Es lagen auf ihnen alle Schätze desBlumenmarktes: VeilchenFrührosenAurikelnGoldlack.

Fritz sang. Halblaut sang er die Verse des Liebeswalzers:

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Die Wagen fuhren noch immer an ihm vorbei. Die ganze Straße wurde von allden Düften erfüllt.

Die Blumenverkäuferdiein große Decken eingehülltauf den Böckensaßenwandten sich auf ihren Sitzen um und lächelten ihm zu.

Er sang noch.

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

In seiner Gasse war es still und noch halbdunkel zwischen den hohen Häusern.Fritz ging langsamer. Noch immer summte er vor sich hinund er blickte anseinem Hause hinauf und hinab.

Einen Augenblick fuhr er zusammen - ihm warals hätte er oben hinter denScheiben ein Gesicht gesehen.

Bleichmit zurückgehaltenem Atem lauschte Aimee hinter ihrer Tür:

Jadas war er.

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Die Türe oben wurde geschlossenund alles wurde still.

Weiß wie eine Nachtwandlerindie Hände gegen die Brust gedrücktgingAimee zu Bett. Unbeweglich starrte sie dem grauenden Tag entgegen - einem neuenTag.

Fünftes Kapitel

Es war spätals Fritz Cecchi erwachteund infolge der Ermattung kam er nurnach und nach zum Bewußtseinals er undeutlich sahwie Adolf mitten im Zimmerseinen Körper mit einem nassen Handtuch abrieb.

»Wachst du auch noch einmal auf«sagte Adolf höhnisch.

»Ja«erwiderte Fritz nur und fuhr fortden Bruder zu betrachten.

»Du solltest jetzt auch aufstehen«sagte Adolf in demselben Ton.

»Ja«sagte Fritz; aber er fuhr fortohne sich zu rührenden starken undunberührten Körper des Bruders anzustarrendessen Muskeln in lebender Kraftspielten: er empfand eine dumpfe Wutden erbitterten und kläglichen Zorn einesÜberwundenen.

Während er so dalagden Bruder anstarrte und plötzlich die nackten Armeemporhob und fühltewie kraftlos sie warenund wie er dann mit einem Ruck mitden Füßen gegen das Fußende des Bettes stieß und die Schlaffheit auch derBeinmuskeln empfand - da wurde er plötzlich von einer bleichen und wildenErbitterung gepackt gegen sich selbstgegen seinen Körpergegen seinGeschlecht und gegen sie: die Diebindie Räuberindie Verderberin ... sie!

Sein Zorn war ein gedankenloser. Er wußte nur das eine: Er hätte siewieein Wahnsinnigertotschlagen können. Totschlagen mit geballten Fäusten.Stück für Stück totschlagen. Sie totschlagenwährend sie schrie und lachte.Totschlagenso daß sie nicht mehr jappte. Mit seinen Hacken und Füßen sietottreten.

Abermals hob er seine Arme empor und preßte seine Hände zusammenund erfühlte wieder das Versagen der kraftlosen Muskelnwährend er in Wut seineZähne zusammenriß.

Adolf ging hinaus und warf die Türe zu.

Da sprang Fritz auf und begann nacktseinen Körper zu untersuchen. Erversuchte einige Übungen und kam damit nicht zustande. Er machteParterre-Gymnastikund er konnte es nicht. Die müden Glieder zitterten nurwiderspenstig.

Wieder versuchte er es. Er schlug sich selbst. Abermals versuchte er es. Erkniff sich mit seinen Nägeln.

Alles vergebens.

Er konnte nichts.

Er lief mit der Stirn gegen die Wand und versuchte abermals.

Es war vergebens.

Und schlaff setzte er sich vor den großen Spiegel und betrachtete Muskelfür Muskel seinen trägen und erschlafften Körper.

So war es also Wahrheit: sie raubten einem alles: GesundheitKraftMuskelstärke. So war es also Wahrheit: alles wurde einem zerstört: ArbeitLebensstellungName.

Jaso war es.

Und es würde ihm gehen wie den andernund es würde bald mit ihm vorbeisein.

Es würde ihm wie »the Stars« gehendie zwei Dirnen von Stadt zu Stadtschleppten und sie prügelten - bis sie schließlich ins Irrenhaus gesperrtwurden.

Es würde ihm gehen wie dem Jongleur Charles - der mit der Sängerin Adelinaein Verhältnis hatte -seine Glieder wurden schlaff wie die eines Trinkers.Dann hängte er sich schließlich auf.

Oder Hubertder mit der Frau eines Stallknechts durchgegangen war und nunauf Jahrmärkten rittoder dem Jongleur Paulder sich in die »Anita mit denMessern« vergafft hatte und nun Ausrufer in einem Zelt war.

Jasie machten ihre Körper zu Heu.

Wieder erhob er sich.

Aber er wollte nicht unterliegen.

Und er begann wieder zu arbeitenseine Muskeln zu peinigenseine Kraftanzuspannenjede Fiber in seinem Körper aufzustacheln.

Es ging.

Und plötzlich zog er sich an. Er riß die Kleider auf den Leibknöpfte siekaum zu und ging.

Er wollte proben - im Zirkus proben - am Trapez.

AdolfAimee und Luise waren bereits bei der Arbeit und hingen in ihrengrauen Blusen an den Trapezen.

Fritz zog sich um und begann am Boden zu arbeiten. Er ging auf den Händenbalancierte auf der rechten und auf der linken Handso daß sein ganzer Körperzitterte.

Die andern sahen von ihren Schaukeln aus stumm zu.

Dann schwang er sich ins Netz hinaufplötzlich und eifrigund kletterte indie Schaukel gegenüber Aimee hinauf. Er schleuderte sich an den Armen hinausso daß der schlanke Körper gestreckt wurdeund begann.

Aimee blieb sitzen. Mit schlaflosenschweren Augen starrte sie unverwandtdiesen Menschen anden sie liebtediesen Mann den sie liebte und dervon einer Liebesnacht bei einer andern herkam:

Jahr für Jahr hatten sie Körper an Körper zusammen gelebt.

Ihre Augen maßen ihn - seinen Nackender sie getragen hatteseine Armedie sie aufgefangen hattenseine Lendendie sie umschlungen hatte ...

Und all die Gewohnheit des Handwerksall die Kenntnis der Arbeit erhöhteihre Qual.

Stummvon fürchterlichen Leiden überwältigt - einem physischen Leidendas so nur von ihr gefühlt werden konnte -starrte sie auf Fritz hinder dortdrüben arbeitete.

Aber Fritz erweckte sie:

»Warum fängst du nicht an«rief er hart.

»Ja.«

Sie fuhr zusammenund mechanisch richtete sie sich in der Schaukel auf.Einen Moment nur trafen sich ihre Augen. Aber plötzlich sah Fritz ihr weißesGesichtdie aufgerissenen Augenden steifenunbeweglichen Körperund erbegriff alles.

Und in demselben Augenblick empfand er auch einen unüberwindlichenunbändigen Ekel vor diesem Körper eines Weibeseinen AbscheueinenWiderwillen gegen die Berührung desselben - eines andern Weibes als dessendaser liebte.

Einen unbezwinglichenihn durcheisenden Widerwillen - gleichsam einen Haß.

»Fangt an!« schrie Adolf.

»Fangt doch an!« rief Luise.

Aber noch zögerten sie.

Dann flogen sie aufeinander zu und trafen sich. Bleich maßen sie einanderund wieder flogen sie. Er fing sie aufaber sie fiel. Sie begannen wiederaberer stürzte.

Wieder fingen sie von frischem an - Aug in Auge; mit jedem Augenblickschienen sie bleicher zu werden und beide fielenFritz zuerst.

Luise und Adolf lachten laut auf ihren Schaukeln. Adolf rief:

»Nadu hast heut' deinen glücklichen Tag!«

Luise schrie:

»Ihn hat einer mit dem bösen Blick angesehen«und wieder lachten sie dortoben in den Schaukeln.

Sie setzten beide die Übung fortund sie mißlang wieder: Aimee ließ losFritz schimpfte laut unten aus dem ausgespannten Netz.

Und plötzlich schalten sie alle durcheinandererregt und erbittertmitlautenhohen Stimmennur Aimee blieb mit ihren aufgerissenen Augen sitzenbleich trotz aller Anstrengung ihrer Arbeit.

Wieder schwang sich Fritz emporund abermals begannen sie. Beide schrienund beide flogen ab.

Sie flogen einander entgegenund gleichsam zu gleicher Zeit erwachte beiihnen beiden dieselbe Wut. Sie fingen einander unter Geschreisie umschlangensich in Wildheit.

Das war keine Arbeit mehr. Das war Kampf. Sie begegneten sich nicht mehrsiegriffen nichtsie umarmten nicht. Sie rangen nur und packten sich wie Tiere.

Glühend schienen die beiden Körper mitten in der Luft ihre Stärke zuerproben - in verzweifeltem Kampf.

Sie hörten nicht auf. Sie gaben keine Kommandoworte mehr. Sinnlosinbrutalemunwiderstehlichem Haß tummelten sie sichgleichsam selbsterschrecktin einem furchtbaren Faustkampf durch die Luft.

Dann plötzlich stürzte Aimee mit einem Schrei - sie lag einen Augenblickwie leblos im Netz.

Fritz schwang sich in seine Schaukel empor und betrachtete mitzusammengebissenen Zähnenbleich wie eine Maskedie Überwundene.

Er stellte sich im Trapez auf und sagte:

»Sie kann nicht mehr arbeiten. Wir müssen tauschen - sie nimmt die obereSchaukelund Luise arbeitet hier.«

Er sprach hartwie jemandder zu befehlen hat. Niemand antworteteaberlangsam begann Luise von der Kuppel zu Aimees Schaukel hinabzugleiten.

Aimee sagte kein Wort. Wie ein zusammengebrochenes Tier hatte sie sich nurhalb im Netz emporgerichtet.

Dann kletterte sie langsam zu dem oberen Seil in der Kuppel hinauf.

Und sie arbeiteten wieder von neuem.

Aber Fritzens Kräfte waren zu Ende. Selbst die Erbitterung griff ihn an.Seine Arme trugen ihn nicht mehr: Er fielund Luise stürzte.

»Was fehlt dir denn«rief Adolf»du bist wohl krank?«

»Nimm du die Kuppel - das wirst du wohl noch können - das geht ja nicht.«

Fritz antwortete nichter saß gebeugten Hauptes daals hätte er einenSchlag bekommen.

Dann sagte er - er murmelte es durch die zusammengepreßten Zähne -:

»Jawir können ja tauschen - für heute.«

Er stieg vom Netz herab und ging hinaus. Die Knöchel seinerzusammengeballten Hände waren weiß. Ihm war esals flüsterten dieStallknechte seinen Namenund er schlich an ihnen voll Scham vorbeiwie einHund.

In der Garderobe warf er sich auf die Matratze. Er fühlte seinen Körpernicht mehr. Aber seine Augen brannten.

Er konnte sich nicht ruhig verhalten. Er begann sich wieder zu üben. Wie maneinen schmerzenden Zahn peinigt und mit dem Druck des Fingers ein Geschwür zumSchmerzen bringtfuhr er fortseine schlaffen Glieder auf die Probe zustellen.

Er versuchtewie im Fieberob er dies könnte und ob er das könnte.

Er konnte nichts; wieder warf er sich hinund abermals versuchte er. Undselbst dies Ringen mit den Versuchen ermattete ihn - vergebens - noch einmal!

So verging der Tag. Er wich nicht aus dem Zirkus. Er irrte um die Manegeherumwie das böse Gewissen um das Verbrechen.

Abends arbeitete er mit Luise oben in der Kuppel.

Er kämpfte wie ein Wahnsinniger mit seinen Gliederndie ihm nicht gehorchenwollten. Er strengte die zitternden Muskeln wie in Verzweiflung an.

Es ging - einmalnoch einmalnoch einmal.

Er flog zurücker flog hiner ruhte wieder.

Er sah nichts - nicht die Kuppelnicht die Logennicht Adolf. Nur dasTrapez - dasdas er erreichen sollteund Luisedie vor ihm schaukelte.

Dann flog er abgriff mit einem Schrei - es warals wenn das Sausen desBlutes sein angsterfülltes Hirn sprengen wollte - nach Luisens Bein hinaus undfiel - hinab in das heftig auf- und abwogende Netz.

Es war in dem ungeheuren Raum still - stillals glaubte man ihn tot.

Da hob Fritz den Oberkörper halb empor. Er wußte nichtwo er war. Nunbesann er sichund mit furchtbarer Anstrengung sah er wieder die ManegedasNetz und die schwarze Verbrämung der Menschendie Logen und - sie.

Und überwältigt von Verzweiflungmehr über die Demütigung als über denSchmerz des Falleshob er auf einmal die geballten Fäuste empor und sankwieder zusammen.

Die drei andern hatten ihre Vorführungen unterbrochen und riefen verwirrteinander zu. Wie ein Blitz war Adolf unten an dem herabhängenden Seil.

Er und zwei Stallmeister hoben Fritz aus dem Netz herausund sie stütztenihnso daß es aussahals wenn er selbst ging.

Dann erst glitt Aimee langsam an dem Seil herab. Sie gingals wäre sieblind - sie sah nichts.

Zwei Artisten standen am Eingang.

»Er kann dem Netz dankbar sein«sagte der eine.

»Ja«erwiderte der andere»er wäre schon kalt geworden.«

Aimee fuhr plötzlich zusammen - sie hatte die Worte gehört. Und als sähesie es zum ersten Malmaß sie mit einem einzigen langen Blick Netz und Seileund Schaukeln - die hohenfurchtbar hohen Schaukeln.

Der eine Artist folgte ihrem Blick.

»Auch schändlich hoch!« sagte er.

Aimee nickte nur - ganz langsam.

Es war wieder stillund die Vorstellung nahm ihren Verlauf. Fritz war in derGarderobe von der Matratze aufgestanden und saß vor seinem Spiegel. Geschehenwar ihm nichts; es war nur die Betäubung vom Fall.

Adolf zog sich an. Lange schwiegen sie still. Dann sagte Adolf: »Das siehstdu wohl einso geht es nicht weiter?«

Fritz antwortete nicht. Bleich blieb er sitzen und wandte den Blick vonseinem eigenen Gesicht im Spiegel ab.

Adolf war fertigund sie hörten Luise an der Garderobentür klopfen.

»Wirst du noch einmal fertig?« fragte Adolf. »Sie warten.«

Fritz nahm die tickende Uhr von seinem Spiegel herab und ging hinauswo diebeiden Schwestern stumm warteten. Sie gingen still nach Hause. - Fritz an derSeite Luisens.

Die Demütigung brannte in seiner Seeleals hätte er eine Wunde in seinerBrust.

Sechstes Kapitel

Fritz und Adolf waren längst zu Bettund Adolf schlief trägemit offenemMundewie Akrobaten zu schlafen pflegenderen Körper in schwerer Ruheregungslos daliegt.

Aber Fritz konnte nicht einschlafen; er lag ausgestreckt auf dem Rückenschlaflos in dumpfer Verzweiflung. So war es denn also geschehen.

So war es denn schon jetzt geschehen. Er konnte nicht mehr arbeiten.

Er umkreiste nur den einen Gedanken: er konnte also nicht mehr arbeiten. Undganz langsam und ganz matt machte er sich klarwie das gekommen war - Tag fürTag und Nacht für Nacht. Ruhig und ganz matt sah er das alles vor sich: dieblaue Stube und das hohe Bett und sich und sie. Den gelben Saal mit demRuheplatz hinter dem Schirm und die Porträts und sich und sie; die Treppeaufder die Lampe ausgingund sich und sie ...

Und den Gartenin dem er immer wieder umgekehrt war.

Und nun war alles vorbei. Nun erntete er die Früchte.

Er wußte es.

Seine Gedanken wanderten in derselben trägen Weise weiter.

Aber wie er zugrunde gerichtet warkonnte er auch sie zugrunde richten. Jadas konnte er.

Er konnte eine Nacht dort hingehen und sich die Türe aufschließen. Und wenner dann dort war - bei ihrmit ihr- und wieder machten seine Gedanken haltund er sah das blaue Gemach und sich und sie -dann konnte erdann wollte erklingelndas ganze Haus zusammenklingelnbis ihr Mann und die Diener und dieMädchenalles zusammenlief und sie sahen - sie.

Jadas konnte er!

Jadas wollte er.

Und plötzlich sagte erwie er das vor sich sahnoch einmal: »Ja - daswill ich - jetzt!«

Alle Ruhe verließ ihn: Jawarum sollte er es nicht tun? Jetztwo der Plannoch frischsein Zorn noch neu und seine Gedanken stark waren? Jaer wollte esjetzt tun.

Und schnellohne Licht anzuzündenbegann er seine Kleiderzusammenzusuchensie anzuziehen - ohne Geräuschum nicht Adolf zu wecken -indem er es ständig vor sich sah: sich selbst und sie in der blauen Stubemitten in der blauen Stube sich und sie. Dort sollte es geschehen.

Er stieß in der Eile an einen Stuhlund plötzlich blieb er still auf demBett sitzenvoller Angstdaß Adolf erwachen könnte. Er durfte nichtaufwachen.

Dann zog er sich lautlos mit zurückgehaltenem Atem weiter an.

Er wollte jetzt fort - er mußte fort!

Er trat zu hart auf und mußte wieder innehalten.

Adolf drehte sich im Bett herum und murmelte:

»Was Teufel gibt's denn?«

Und dann sagte er:

»Wo willst du hin?«

Fritz antwortete nicht. Halb angekleidetwarf er sich unter die Bettdeckeum sich zu verbergen - und er zitterte plötzlichwie ein ertappter Dieb.

Und bald daraufals er wieder Adolfs ruhige Atemzüge vernahmbegann erabermals sich weiter anzukleidenindem er aber im Bett liegen blieb: infortwährender zitternder Angstals stehle er seine eignen Kleider - und indemihm bewußt warwarum er eigentlich dorthin wollte!

Nun war er wieder auf. Er tastete sich vorwärts mit einem Lächeln überjedes Anstoßendas er vermiedindem er an der Wand entlangging - ohne zuatmenlistigwie ein Trinkerder sich ungesehen zu seiner Flasche schleicht.

Und es gelang ihmdie Tür zu öffnen und wieder zuzumachen und hinaus undhinunter zu kommenindem er noch immer schleichend dahinwanderte ...

Und ihm war bewußtdaß er schamlos seiwie ein Hund.

Und er sagte: Morgen kann ich also auch nicht arbeiten.

Und er wußte: Na - also ganz ins Verderben hinein!

Und er lief - lief nur immer schnelleran den Häusern entlangin ihremSchatten ...

Zu Hause hatte ihn niemand gehört - außer Aimee.

Sie folgte ihm - glitt die Treppe hinabzum Hause hinaushinüber auf dieandere Seite der Gasse ...

Wie zwei Schattendie einander jagtenverfolgten sie sich durch die stillenStraßen.

So erreichte Fritz das Palais und das kleine Gitter: Nun war er drinnennunerstarb sein Schritt ... Aimee stand in einer Türöffnung verborgendenFenstern des Palais gegenüber.

Sie sah ein Licht sich an den Fenstern des ersten Stocks entlang bewegen. Siesah zwei Schatten hinter den Spitzenvorhängen dahingleiten:

Das waren sie!

Das Licht kam zurücksie sah die Schatten wieder - dann wurde esausgelöscht ... Nur ein bläulicher Schein leuchtete still hinter dem letztenFenster:

Dort waren sie - dort hinter den Scheibendas waren sie.

Mit zurückgehaltenem Atemin der Qual der Eifersucht starrte Aimee nachdiesen Scheiben hin: Allealle diese Bilder kamen und marterten sie zu gleicherZeit.

All die Bilderwelche die letzte Qual der Verlassenen sind - und die vorihrdem Akrobatenmädchenauftauchtenobschon sie noch keusch war -es warals würden sie von lebenden Händen auf diese Scheibe gezeichnethinter der erwarhinter der sie sich befanden.

Und ihr ganzes Lebendas in Aufopferung verlebt war; ihr ganzes Daseindasmilde Hingebung gewesen war; alleswas sie gedacht hattejeder ihrerzärtlichen Gedankenjeder gemeinschaftliche Plan - alles sank vor diesenBildern gleichsam in den Boden - diesen Bildern der beiden Körper.

Ihr ganzes LebenStück für StückErinnerung für ErinnerungGedankefür Gedanke zerbrachwurde verschlungenvernichtet und schwand in demeinzigen: dem Sehnendem Sehnen der Verlassenen ...

Es blieb nichts übrig: nicht ihre Hingebungnicht ihre Zärtlichkeitnichtihre Opferwilligkeit - nichts ... Es wurde in ihrem Unglück herabgewürdigteswurde in ihrer Verlassenheit verdorbenes fiel in seine Ursprünglichkeitzurück:

Der Trieb - der allmächtigealles vernichtende Trieb.

Stunden vergingen.

Es warals könnte Aimee nicht mehr leiden. Wie im Schlaf starrte sie mattnach dem hellblauen Schein hin.

Dann öffnete sich die Gittertüre und fiel wieder ins Schloß.

Das war er!

Und Aimee sah ihn qualvollgrau in dem grauenden Taglangsam an sichvorbeigehen.

Siebentes Kapitel

»Aimee«sagte Luise in einem Tonals wollte sie sie aufwecken»schläfst du?«

Aimee erhob nur den Arm - merkwürdig langsam - und band ihre langen Haareauf.

»Man sollte es fast meinen«sagte Luise.

Und Aimee saß wieder vor ihrem Spiegelin dem sie ihr eigenes Bild sah -ohne sich zu rühren -als wenn zwei Schlafende mit offenen Augen einanderanstarrten.

Langsam zog sie ihre Bluse an und stand auf und ging hinaus - mit demselbenseltsamen Blickals folgte sie einer unsichtbaren Erscheinungund mit dem Gangeines Automatenals wäre die Seele in ihrem toten Körper in Schlummergesunken.

Luise folgte ihrund sie gingen beide hinaus in den dunklen Raumin demFritz bereits auf der Schaukel wartete.

Es warals hätte Aimee niemals so sicher gearbeitet wie heute: wie inmechanischem Tempo machte sie ihre Griffeließ los und flog.

Sie arbeitete wieder mit Fritzund es warals wirkte ihre Ruhe auf ihnzurück: wie die toten Räder und Teile einer Maschine trafen sie sichtrenntensie sich und trafen sich wieder. Und wieder ruhten sie in dengegenüberhängenden Schaukeln.

Es warals sähe Aimee in dem ganzen weiten Raum nur dasbeständig nurdas: seinen Körper.

Diesen spielenden Körperdie bewegte Brustden atmenden Munddie Aderndie heiß klopften - das alles konnte still und kalt werden.

Still und ganz kalt.

Diese springenden Muskelndie Händedie sie ergriffender Nackenin demdas Leben saß - alles würde still und kalt werden.

Die Arme unbeweglich und die Muskeln wie Stein und die Stirn kalt und derHals tot und die Brust hoch und still.

Und die Hand dortdie fiel dann so schwer herabwenn sie aufgehoben wurde.

Arme und Beine und Hände - tot.

Sie arbeiteten wieder. Sie flogen und trafen sich.

Jede Berührung stachelte sie an: Wie warm er auch anzufühlen warwürde erdoch kalt werdenwie sehr auch alles an ihm bebtewürde er doch so stillwerden.

Sie dachte nicht mehr daranwarum. Sie dachte nicht mehr an sich. Sie sahnur das Todesbildsie sah daswas sie sah.

Ihn - kalt und still.

Und gleich einem Geistesgestörtender seiner geheimen Manie folgtwurdesie schlau und falsch. Wie ein Morphiumsüchtigerder seine Lust befriedigenwillwurde sie überaus erfindungsreich.

Sie bekam die Zähigkeit des Monomanender stets nur an eines denkt.

Sie suchte Fritzden sie lange scheu vermieden hatte.

Als die Probe zu Ende warfing sie anallein zu arbeiten. Sie übertrug alldie Übungen der unteren Schaukel auf die Kuppel. Sie rief zu Fritz hinunterund sie hielt ihn in der Manege zurückindem sie ihn ausfragte und ihn umseinen Rat bat - einschmeichelndwie ein Lehrling seinen Meister.

Sie wagte alles dort oben in der Kuppel. Sie spielte mit dem Tode. Dreistlockte sie ihn.

Sie beobachtete seine Unsicherheitals wollte sie sie messen. Sie suchteHilfe in seiner Kraftlosigkeitdie er verbergen wollte. Sie versuchte dasGewagtesteund sie rief:

»Wir werden schon zeigenwas wir können! Wir werden uns nichtüberflügeln lassen!«

Sie reizte ihn. Er erteilte ihr Ratschläge. Er kletterte an den schwebendenSeilen zu ihr in die Trapeze hinauf.

Sie floh gleichsam vor ihm zwischen den rasselnden Schaukeln. Sie schwangsich von Trapez zu Trapez über die gähnende Tiefe.

Und wie von unwiderstehlicher Macht getriebenbegann eres ihrnachzumachenwährend sie ihn mit ihren Rufen anfeuerte. Sie hatte gleichsamdie Kraft des Fiebers in ihrem heftig angespannten Körperer wandte seineletzte Kraft anwie im letzten Lebenskampf.

Sie schrie:

»Ça va - ça va!«

Er schwang sich vor und griff:

»Ça va - ça va!«

Die Artistendie aus- und eingingenblieben in der Manege stehen und sahenzu.

Er wurde noch eifriger. Er wagte alleswas sie wagte. Von Schaukel zuSchaukel flog sie - wildmit fliegendem Haar vor ihmals zeigte sie ihm denWeg.

Sie trafen sich und griffen sich. Ihr Körper war kaltals umfingen ein paarMarmorarme seinen heißen und zitternden Leib.

Dann hörte sie aufaber er setzte die Übung fort. Sie saßzusammengekrochen in ihrer Schaukel und stachelte ihn durch gedämpftegleichsam knurrende Zurufe an - sie saß im Dunkeln und betrachtete ihn.

Fritz stöhnte und ergriff im Herniedersausen das schwingende Seil: es sahausals stürzte er herab - hinaus in das große Dunkel.

Aimee blieb auf ihrer Schaukel sitzen: Sie hörtewie er dumpf ins Netzfiel. Dann ertönte sein Schritt in der weichen Erde der Manege - Trittedieschnell erstarben.

Es war ganz dunkel. Nur von der Kuppel her kam gedämpftes Licht. Der ganzeungeheure Raum lag im Schweigen da.

Noch immer saß Aimee zusammengekrochen auf dem Trapez zwischen Netz undSeil. Dann erhob sie sich. Die Haspen der Schaukeln und Schnüre rasseltenleise.

Sie wurden emporgehoben und geprüft.

Wie ein Schatten machte sich Aimee im Dunkeln zu schaffen - eifrigwie ineiner Werkstatt.

Die Messingknöpfe der Schaukeln leuchtetenals wären es Katzenaugen.

Sonst war es ganz dunkel.

Leise schlugen die Seile der Schaukeln aneinander.

Sonst war es ganz still.

Lange machte sich Aimee in der Kuppel zu schaffen.

Dann ertönte eine laute Stimme unten aus dem Dunkel der Manege.

Es war Fritz. Er rief:

»Aimee! Aimee!«

»Jaich komme!« lautete die Antwort.

Aimee erfaßte das rechte Seil. Langsam glitt sie herabals schwebte sieeinen Augenblick schweigend über ihmder unten wartete.

»Ich komme«sagte sie wieder und war bei ihm.

Achtes Kapitel

»Die vier Teufel« sollten Benefiz haben.

Es war am Abend vorher - nach der Vorstellung. Das Publikum ging vom Zirkusnach Hause.

Adolf klopfte an Aimees und Luisens Türund sie gingen alle vier den Gangentlang.

Keiner von ihnen sprach ein Wortund still setzten sie sich an ihrengewöhnlichen Tisch im Restaurant. Die Seidel wurden gebrachtund sie trankenschweigend. Es warals führte Aimee selbst die kleinste Bewegung - schon dieArtwie sie das Glas anfaßte - mit Überlegung aus und so langsamals wennsie allesselbst das Geringsteabmessen wollte.

In dem Restaurant ging es lärmend zu. Bib und Bob feierten ihren Geburtstagund ein Kreis von Artisten setzte sich rings um ihren Tisch.

Einer machte Taschenspielerkunststückeund der Clown Trip ahmte einengewissen Rigolo nachindem er sein Hintergestell hin- und herdrehte.

Die »Teufel« blieben allein für sich in ihrem Winkel sitzen.

Still verschwanden die Ballettdamendie wartend an den Wänden gesessenhatten - sie wurden von eiligen Herren abgeholt. An einem Seitentisch spieltendie Agenten Karten.

Die Clowns fuhren fortLärm zu machen. Einer von ihnen spielte auf derOkarinaund ein halbes Dutzend Cri-cris antworteten. Der Clown Tom überreichteals Geburtstagsgeschenk dem Kollegen Bob einen Kohltopfder mit Schnupftabakgefüllt warund alle begannen zu schnupfen und zu niesenwie im Chor zuschnupfen und zu niesenwährend die Cri-cris schrien. Oben auf dem Tisch ahmteder Clown Trip noch immer den Rigolo nach mit seinen Drehungen und Windungen.

Die »Teufel« saßen noch immer still.

Der »Plakatmann« kam mit dem Kleistertopf und der Tasche herein und schlugan den beiden Tafeln die Programme für morgen an. Der Name »Les quatresdiables« stand dreimal darauf.

Adolf stand auf und ging hin und betrachtete das Programm. Er bat einen derAgentenes ihm zu übersetzenund der Agent stand vom Spieltisch auf undübersetzte langsam aus der fremden Sprache - während Adolf zuhörte -:

»Indem wir ein hochgeehrtes Publikum und alle unsere Gönner versicherndaß wir zu dieser unserer Vorstellung alles aufbieten werdenzeichnen wirehrerbietigst

Les quatres diables.«

Adolf nickteindem er Wort für Wort den fremden Text verfolgte. Dann kehrteer zum Tisch zurück und starrte nach dem Plakat mit seinen merkwürdigenBuchstaben hinmaß es mit zufriedenem Blick und sagte:

»Schöne Buchstaben.«

Und Luise und Fritz standen auch auf und gingen hin und besahen es - einernach dem andern.

Die Cri-cris kreischtenals sollten alle Trommelfelle gesprengt werden. DerClown Tom musizierteindem er kleine pfeifende Instrumente in seinenaufgerissenen Nasenlöchern anbrachte.

Auch Aimee hatte sich erhoben. Sie stand still hinter Fritz und Luisewährend der Agent fortfuhrdieselben Worte zu übersetzen:

»Zeichnen wir ehrerbietigst

Les quatres diables.«

Luise lachteda sie sich mit der fremden Sprache fast die Zunge zerbrach;und sie begannen sich über die Buchstaben und Laute lustig zu machendie derAgent ihnen vorsagtediese merkwürdigen Lauteindem sie beide denselben Satznachspotteten: »zeichnen wir ehrerbietigst« -

Es klang so komischdaß die andern hinzukamen; und sie begannen alle - dieClowns und die Gymnastiker und die Damen - zu lachen und zu rufen undnachzuspottenlautjeder in seiner Sprachewobei alles im Lachen ertrank -dieselben Worte in einem großenlautenspottlustigen Chor:

»Zeichnen wir ehrerbietigst

Les quatres diables.«

Die Cri-cris schreien. Hoch oben auf zwei Tischen wendet sich Trip in seinenRigolo-Drehungen.

Da lachte auch Aimeelaut und lange - als letzte von allenwährend ganzallmählich der Lärm nachließ.

Die Teufel kehrten zu ihrem Platz zurück.

Adolf holte Geld vor und legte es neben ihre Seidel. Dann standen die dreiaufaber Fritz blieb sitzen. Er wollte noch nicht nach Hause.

»Gute Nacht«sagten Adolf und Luise.

»Gute Nacht«erwiderte Fritz nur und rührte sich nicht.

Aimee blieb stehen; einen Augenblick betrachtete sie ihnmaß ihnals littesie noch einmal bei dem Gedanken an diese letzte Nacht.

»À demainAimee«sagte er.

Langsam wandte sie den Blick von ihm ab: »Gute Nacht! «

Sie ging in den großen Gang hinaus. Hier war es dunkel. Die Laterne desPlakatmannes stand am Boden - das gelbe Papier des Plakats leuchtete ihr in demLichtschein entgegen. Die beiden andern warteten bereits vor der Türe. Siefolgte ihnen allein.

Zwischen den hohen Häusern war es tot und still.

Aimee betrachtete die großen Steinmassen mit den Fenstern darinihrenAugenden fremden Augen.

Der Himmel war hoch und klar. Aimee blickte nach den Sternen emporvon denenman sagtedaß sie Welten seienandere Welten.

Und dann sah sie wieder nach den Häusern und Türen und Fenstern undLaternen und den Pflastersteinen hinüber - als wäre jedes Ding einmerkwürdiges Wunder -das sie zum ersteneinzigen Mal sähe.

»Aimee«rief Luise.

»Jaich komme.«

Wieder starrte sie nach den langen Häuserreihen hindie dunkel undverschlossen dalagen - Steinhaus an Steinhaus -zwischen denen ihre Schritteerstarben ...

Hinter ihr schrien die schmetternden Cri-crisund sie hörte die Clownslachen.

»Aimee«rief Luise wieder.

»Ja.«

Aimee holte sie ein. Die beiden standen Arm in Arm unter dem Schein einerLaterne und warteten auf sie. Luise warf den Nacken zurück und blies den Atemleicht in die Luft hinaus:

»Mein Gott«sagte sie»kommst du denn nicht mit?«

Und wie sie auf Adolfs Arm gelehnt im Licht der Laterne dastandblickte siedie tote und unbekannte Straße hinunteraus der sie soeben herkamen und derenHalbdunkel sich hinter ihr schloß.

»So eine Gasse finde ich gemütlich!« sagte sie.

Und sie begannen wieder lachend die drei hochkomischen Worte nachzusprechen:zeichnen wir ehrerbietigstund sagte dannindem sie noch ein letztes Mal denBlick die tote Gasse entlang schweifen ließ:

»Jawie die wohl heißen mag?«

»Ach«meinte Adolf»man passiert so viele Gäßchen.«

Und sie gingen weiter - in die nächsten Häuserreihen hinein.

Fritz war sitzen geblieben. Die anderndie am Clownstischluden ihn zueinem Glase ein. Er schüttelte aber nur den Kopf. Und einer der Clowns rief:

»Acher hat etwas Besseres vor - gute Nacht.« - Und alle lachten.

Die andern erhoben ihre Gläser und fuhren fort zu lachen: Bib und Bob hattensich eine Angel hergerichtet und angelten alle Hüte der Artisten von denKleiderhaltern herunter.

Fritz stand auf und ging zur Restaurationstür hinüberdie nach der Straßeoffenstandund setzte sich an einen Tisch draußen auf dem Vorplatz unter einpaar Lorbeerbäume.

Eine unendliche Langeweileein namenloser Ekel hatte ihn überkommen.

Er sah die flüsternden Paaredie auf- und abgingen und sich aneinanderdrückten. Im Dunkeln schnäbelten sie sich und lachten verliebt. Die Frauendrehten sich wollüstigund die Männer scharwenzelten und brüsteten sichvoreinanderwie die Tiere des Feldesdie sich paaren wollen ...

Plötzlich lachte Fritz kurz und scharf auf.

Er dachte an den Clown Timden sie den Herrn mit den Hunden nannten - jaTim hatte recht.

Und Fritz sah diesen Tim vor sich mit seinem stillenunbeweglichentraurigen Gesichtdas dem einer Bildsäule glichmit dem feinenrotengeschweiften und schwermütigen Munde - dem Munde eines Weibes.

Fritz sah ihn daheim in seinem Logisin der großen Stubein der er einganzes Haus für seine Hunde aufgebaut hatte - ein zweistöckiges Hausin demalle Hunde wohntenübereinander ...

Dort lagen die Tierejedes in seinem Raum für sichstillden Kopf durchdie Öffnung hinausgestrecktund starrten nur immer mit Augen vor sich hindieebenso traurig waren wie die Tims.

Und Tim saß mitten unter ihnen.

Was für eine stille Gesellschaft das war.

Alle diese Hunde waren kastriert - und Tim meintediese Tiere wärenmenschlicher als die Menschen.

JaTim hatte recht: Die Menschen waren Tiere. Und die Augenblicke desLebensin denen wir lebtenwaren tierisch.

Tiere waren sie - Tieredie sich befriedigen wollten.

Toren waren sie; Toren waren wir alle.

Wir hegten und pflegten unswir arbeiteten - mit tausendfältiger Mühe. Wirgaben TageJahreunsere Jugendunsere Kraftdie Frische unseres Hirns hin -und eines Tages hat das Tier sich in uns erhobendas Tierdas wir nun einmalsind.

Fritz lachte. Und er belastete unwillkürlich diesen seinen Körperden erein ganzes Leben lang gepflegt und in einem Vierteljahr zugrunde gerichtethatte.

Ein Artist kam durch die Türe heraus. Er wartete einen Augenblickdann kamauch seine Frau herausund sie watschelten längs des Trottoirs davon.

Fritz sah ihnen nach und fuhr fort zu lachen.

Und dann diedie sich verheirateten. Verloren diese nicht ihre Körper? Diesich für Lebenszeit paartendie ihr tägliches Brot aßen und derFortpflanzung dienten.

Wie dicke Drohnen schwollen sie auf und legten sich einen Bauch zu bei ihremregelmäßigen Leben! Und sie zogen Kinder auf zur Fortsetzung dieses Lebens.

Toren - Toren!

Fritz blieb stehen und starrte nach den auf und ab wandernden Paaren hin. Siewurden immer zärtlicher und suchten den Schatten auf.

Drinnen lärmten die Clowns. Die Cri-cris schrien. Es klang über alle Köpfehinausin alle Gesichter hineinzu all diesen Paaren - wie ein Triumphgesangder Dummheit.

Fritz stand auf.

Er schleuderte ein Geldstück auf den Tisch.

Dann ging er.

Drinnen in der Restauration stieg der Lärm. Sie brülltensie schrien undlachten. Fritz begann zu singen. Und alle fielen pfeifendschreiend und kakelndein: mit Clownsgrimassenmit Gebärden aus der Manegemit verdrehtem Mundesangen sie:

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Draußen auf dem Vorplatz blieb man stehen. Die Paare sahen durch die Fensterhinein und lehnten sich aneinander und lachten.

Dann summten sie zu zwei und zwei die Melodie der Clowns. Bis weit hinaus indie Dunkelheit hörte man sie summen:

Amouramourohbel oiseauchantechantechante . toujours.

Fritz war auf den Platz hinausgekommen. Drinnen sah er die verrücktenClownsdraußen die Liebespaare die Köpfe leicht im Takt bewegen.

Und plötzlich begann der Akrobat zu lachen: an eine Laterne gelehntlachteund lachte er - wildwahnsinnigohne sich beherrschen zu können.

Da kam ein Vertreter der Ordnung auf ihn zu und starrte diesen Herrn imZylinderhut ander die öffentliche Ruhe störte.

Aber der Herr fuhr nur fort zu lachenso daß er sich schüttelteindem erzu singen versuchte:

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Da fing auch der Wächter der Ordnung zu lachen an - ganz urplötzlichohnezu wissenwarum.

Aber drinnen fuhren sie fort:

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Fritz drehte sich um.

Er ging - dorthin!

Neuntes Kapitel

Noch einmal erdröhnte der Beifallund Luise erschien wieder.

Dann begannen die Stallmeisterdas große Netz zusammenzuziehen. Es klangwie wenn das Großsegel gehißt wirdwährend die Musik schwieg.

»Herr Fritz und Mlle. Aimee werden den großen Sprung ohne Netzausführen.«

Ein paar Stallknechte harkten mit großem Eifer den Sand der Manege glatt.Dann war alles fertig. Wie eine salutierende Garde warteten die Stallmeisterals der »Liebeswalzer« wieder ertönte.

Fritz und Aimee kamen Hand in Hand hinein. Grüßend verneigten sie sichmitten unter den zugeworfenen Blumen. Dann schwangen sie sich hinauf an denlangen wartenden Seilen.

Die Augen Tausender folgten ihnen.

Nun waren sie oben. Eine Sekunde ruhten sie sich ausSeite an Seite.

Wie ein Schauder durchfuhr es die Mengeals Fritz losließ und dahinflog -ein Schauderder wie über einen einzigen Körper hinzitterte.

Aber niemals hatten sie sicherer gearbeitet. In der atemlosen Stille griffenihre Hände fest um die rasselnden Schaukeln.

Fritz flog hin und zurück.

Aimees Augen hingen an ihm - groß und mattglänzendwie ein paar Lampendie bald erlöschen werden.

Der Walzer schwoll anund das Spiel der Schaukeln wurde heftiger.

Wie aus atembeklemmter Brust kam der angsterfüllte Beifall.

Nun löste Aimee ihr Haar aufals wollte sie sich in einen dunklen Manteleinhüllen; aufgerichtet wartete sie in der Schaukel vor Fritz. Die großenSprünge begannen.

Sie flogensie sausten dahin. Wie der Schrei der Vögel tönten ihreKommandoworte über der Musik hinund es warals wenn die Gedanken aller sichverwirrten.

»Aimeedu courage!«

Er flog wieder.

»Enfin du courage!«

Er griff wieder zu.

Aimee sah nur ihn - seinen Körper; es war ihrals leuchtete er.

Der Beifall ertönte wieder dröhnend! Der Walzer schwoll aner jubelteförmlich.

Fritz wartete auf sie.

Aimee wußte nichts weiterals daß sie plötzlich ihre Hand emporhob undsich weit von der schwebenden Schaukel hinaufschwingenddie Haspe lösteander sie hing.

Und Fritz flog daher.

Sie sah nichts mehrund es ertönte kein Schrei.

Nur ein Geräuschals fiele ein Sandsack auf den Boden der Manegeals seinKörper niederfiel.

Ein Tausendstel eines Augenblicks wartete Aimee auf ihrer Schaukel: Siewußte erst jetztdaß der Tod eine Wollust ist - dann ließ sie losschrieauf und stürzte hinab.

Als wenn alle Fesseln gesprengt würdenwaren Hunderte voll Entsetzengeflüchtet. Männer setzten über die Barrieren und liefen davonFrauenströmten in den Eingängen zusammen und flüchteten.

Niemand wartetealles floh. Der Schrei der Frauen klangals würden sie mitMessern gestochen.

Drei Ärzte liefen herbei und knieten bei den Leichen nieder. -

Dann war es still geworden. Als wenn sie sich verbergen wolltenschlichendie Artisten in ihre Garderobenohne sich auszuziehen. Bei jedem Laut fuhr manzusammen.

Ein flüsternder Stallknecht kam zu den wartenden Ärzten hinund sie hobendie Leichen auf und legten sie in dasselbe Segeltuch.

Stumm trugen sie sie hinaus - durch den Gang und den Stallwo die Pferde inihren Ständen unruhig wurden. Die Artisten folgtenein seltsamer Trauerzug -in den mannigfaltigen Kostümen der Pantomime.

Der große Rüstwagen wartete.

Adolf stieg hinauf und legte sie dort in das Dunkel - beidezuerst Aimee unddann den Brudernebeneinander hin. Ihre Hände waren so dumpf auf den Boden desRüstwagens niedergefallen.

Dann fiel die Tür zu.

Man vernahm wieder einen Schreiund eine Frau stürzte vor und klammertesich an den Wagen.

Das war Luise; sie trugen sie langsam fort.

Ein Kellner des Restaurants lief den langenöden Gang entlang - voll Angstwie in Gespensterfurcht mitten in all der Helligkeit.

Er schrie nach einem Arzt.

Eine Dame läge in der Restauration in Krämpfen.

Einer von den drei Ärzten eilte herbeiund es wurde nach einem Wagengerufen.

Er fuhr vor - mit prangendem Wappen auf den Türenund eine Dame wurdevomArzt gestützthinausgeführt. -

Ihre Equipage mußte einen Augenblick halten. Der Rüstwagen versperrte dieGasse.

Dann kam die Equipage vor und fuhr weiter.

Auf der Straße war viel Licht und Gedränge.

Zwei junge Leute waren unter einer Laterne stehengeblieben. Mit frohenforschenden Blicken schauten sie über den großen Platz hin.

Zwei andere kamen hinzu und erzählten von dem »Ereignis«.

Es wurde etwas gefluchtund man erklärte mit vielen Handbewegungen. Dannzogen die beiden Neuigkeitsbringer weiter.

Die beiden andern Herrn blieben stehen.

Der eine von ihnen schlug mit dem Stock auf die Pflastersteine.

»Na«sagte er»mon dieu - pauvres diables! «

Und gleich darauf begannen sie wiederdie Augen auf die wimmelnde Mengegerichtetzu summen:

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.

Die Stöcke mit den Silberknöpfen leuchteten. Die jungen Männerschlenderten in ihren langen Mänteln weiter:

Amouramourohbel oiseauchantechantechante toujours.